Eva Karl, Zusammenbruch – Umbruch – Aufbruch. Ländliche Gesellschaft zwischen Ende und Anfang, Stadt und Landkreis Dinkelsbühl 1943-1948 (= Mittelfränkische Studien 27), Ansbach 2021, ISBN 978-3-96049-093-7.

 

Dinkelsbühl in Mittelfranken. Die letzten Tage des 2. Weltkrieges und der Neuanfang.

Stadt und Landkreis Dinkelsbühl am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Ende und Zusammenbruch – damit beginnt Eva Karls Beschreibung der „militarisierten deutschen Volksgemeinschaft“ in Stadt und Landkreis Dinkelsbühl im „totalen Krieg“, im Luftschutz an der „Heimatfront“ und in einer ganz neuartigen Konfrontation mit Fremden, seien es eilig aus der Stadt Evakuierte (auf dem Land als „Luftschutzkeller des Reiches“), Flüchtende aus den Ostgebieten des Reiches oder Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten. Dem Alltag in diesen letzten drei Kriegsjahren widmet sie im zweiten Teil über hundert Seiten, Wirtschaft und Versorgung ebenso eingehend behandelnd wie etwa das Familienleben zwischen Front und Heimat.

 

Die Stunde „Null“: Amerikaner, Flüchtlinge und Displaced Persons.

Der „Anfang“ (Kapitel III) oder Umbruch kam mit dem Kriegsende und der „Stunde Null“. Er brachte eine Militärregierung und amerikanische Besatzer oder Befreier samt Entnazifizierung, Säuberung und Demokratisierung gewissermaßen „auf Befehl“. Und wieder kamen Fremde aufs Land, sehr viele mehr diesmal, neben Evakuierten, Flüchtlingen und Heimatvertriebenen (bundesweit immerhin 12-14 Millionen) auch sogenannte DPs – Menschen aus Zwangsarbeit (Ostarbeiter), Lagern sowie andere NS-Opfer, ohne Heimat, Angehörige oder Optionen (außer erneuter Lagerhaft in der Heimat). Die Forschung spricht angesichts solcher gravierenden Veränderungen von einer „Revolution des Dorfes“ (L. Neundörfer) innerhalb vorher relativ geschlossener sozialer Milieus.

 

Soziologie des Anfangs der Nachkriegsgesellschaft. Von Traumata, Tätern und Opfern.

Wie sah Aufbruch nun aus unter diesen Voraussetzungen im alltäglichen Leben einer neu „durchgemischten“, einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (H. Schelsky ) und im Kontrast zu den letzten Kriegsjahren im Dritten Reich? Er war neben erheblichen materiellen Mängeln in Versorgung, durch Wohnungsnot oder Währungsreform auch belastet von den erst heute explizit thematisierten menschlichen Problemen einer stark belasteten Generation von Frauen, von aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrenden Männern und Kindern wie Jugendlichen inmitten einer „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Ch. Klessmann) in einer „Niemandszeit“ (J. Bernig) inmitten einer der beschaulichsten deutschen „Idyllen“, dem mittelfränkischen Dinkelsbühl und seinem Umland.

Eva Karl hat hier einen Bogen geschlagen zwischen der Ortsgeschichte ihrer Heimat in der „braunen“ fränkischen Provinz während der späten Nazizeit und den letzten Kriegsmonaten einerseits und den “sauberen“ Nachkriegsjahren inklusive Neuorientierung nach amerikanischem Vorbild andererseits, zwischen „Tätern“ und „Opfern“ vor- und nachher. Doch auch mit ihrer überindividuell regionalen, aber nicht abstrakt bleibenden „nationalen“ Aufarbeitung zweier elementarer Phasen in einem oft genug „unangenehm“ konnotierten, mehr oder weniger belastenden und selten explizit verarbeiteten Abschnitt im Leben unserer Eltern und Großeltern setzt sie einen Meilenstein – der in seiner lokalen Fokussierung auf eine Stadt und ihren Umkreis , aus der „Heimatperspektive“, sowohl die Vielzahl biographischer, subjektiv geprägter Zeitzeugen-Literatur als auch Kalauer wie “Hitlers willige Vollstrecker“ und andere sinnvoll und erfolgreich zu ergänzen vermag.

P.S.: Leider fehlt für das Örtchen Schopfloch ein Hinweis darauf, dass Charlotte Knobloch, ehemals Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, dort in einer katholischen Bauernfamilie Unterschlupf fand und sie so dem Holocaust entgehen und überleben konnte.