Opfer des Nationalsozialismus
Detailstudien zur Forschung über die Opfer.
Warum Opferforschung wichtiger ist als Täterforschung.
Die Täter stehen immer auf der Seite derer, die die Macht haben. Macht geht meist einher mit einem Staatswesen, das Bürokratie besitzt und damit dokumentiert. D.h. Aktionen und Aktivitäten der Täter sind meist in Verwaltungsunterlagen bezeugt.
Da rechtlose Opfer allzuleicht dem Vergessen anheimgegeben sind, brauchen sie eine Stimme, denn um mit Jean-Francois Lyotard (1924-1998) zu sprechen: „Ein Opfer ist ein Mensch, der nicht nachweisen kann, dass er Unrecht erlitten hat, da die Beweismittel verloren sind, ansonsten wäre er ein Kläger.“ (zit. nach Siegfried König, Philosophie der Gegenwart, 2014, p.15). In diesem Sinne hat die Opferforschung zweifelsohne historische, moralische und manchmal auch juristische Relevanz. Rettung der Beweismittel – das ist Opferforschung.
Opfer des Nationalsozialismus und Euthanasie.
Zu einem besonders perfiden Kapitel nationalsozialistischer Geschichte, der Ausrottung wehrloser, schutzbedürftiger Kranker auf der Grundlage einer sozialdarwinistischen Euthanasielehre erschien das schmale aber wirkungsstarke Bändchen:
Am 30. November 1942 wurde vom Bayerischen Innenministerium ein sogenannter Hungerkosterlass ausgesprochen. Was sich hinter diesem so überaus harmlos klingenden Namen verbirgt? Nichts Geringeres als die staatlich legalisierte, ja angeordnete Ermordung von arbeitsunfähigen Patienten in bayerischen Heil- und Pflegeanstalten durch eine absolut fettfreie Ernährung/„Diät“ – in Zeiten kriegsbedingter Lebensmittelknappheit. So geschehen beispielsweise in den Anstalten in Kaufbeuren, Irsee und Eglfing-Haar, weitgehend abseits der Öffentlichkeit. Zur Erinnerung an diesen Akt beispielloser Barbarei, an dieses ruchlose Kapitel nationalsozialistischer Kranken- und Behindertenmorde und Euthanasie erschien das vorliegende, 80 starke Bändchen mit Aufsätzen zum Thema, jeweils mit weiterführenden Literaturhinweisen versehen.
Das Vorwort schrieben Irmgard Badura, Beauftragte der bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, sowie Frau Professor Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung. Eine Einführung zum Thema geben die Herausgeber Michael Spieker und Stefan Sandor (S. 11-21).
Nachfolgend setzt Michael Spieker, Dozent für Ethik und Theorie in Tutzing, unter dem Titel „Es traut sich keiner was zu sagen <…> Wir werden langsam ausgehungert“ (S. 23-31) eine ernüchternde „Collage aus Originaldokumenten“ zusammen.
Hans-Ludwig Siemen referiert auf S. 33-45 aus der Sicht des praktizierenden Psychoanalytikers „Zur Geschichte des ‚Hungerkosterlasses‘…“ und behandelt sowohl die Entwicklung von Heil- und Pflege- zu Tötungsanstalten (Kapitel 1) als auch das Schweigen zur aktiven Erinnerung nach 1945 (Kapitel 2).
Der Beitrag des Philosophen Thomas Sören Hoffmann, „Mitleidstyrannei, Über die Ambivalenz von Mitleidsargumenten in der Ethik“ (S. 47-75), thematisiert eine „Mitleidsrhetorik“ ebenso wie eine „Ideologiegeschichte des ‚Mitleids‘“ oder den Aspekt von „Mit-Sein statt Mit-Leid“.
Im Anhang finden sich Abbildungen ausgewählter Originaldokumente, so der „Erlass“ selbst und Beispiele für Speisepläne sowie die Gewichtstabelle einer von 68 auf 38 (!) kg abgemagerten Insassin.